Leseprobe
Der Fall St. Josef
Eine Greiwske Spökenkiekerie
Die Kita der St. Josefgemeinde machte vor
dem Beginn der großen Ferien einen
Tagesausflug in die Wentruper Berge. Man
hatte an alles gedacht und alles Nötige
mitgenommen, vom Bollerwagen bis zum Dixi
Klo. Die einzelnen Gruppen der Kita hatten
sich in Sichtweite, aber an verschiedenen
Stellen niedergelassen. Es wurde gespielt,
gesungen, gegessen und alles das gemacht,
was zu einem ungewöhnlichen Kita-Tag
gehört.
Dann war Mittagspause. Plötzlich ein Schrei:
„Kevin ist weg!” Frau Lehmkuhl, die wie
immer alles im Griff hatte, beruhigte ihre
Kollegin: „Erstens ist Kevin nicht allein,
sondern hier bei uns. Und zweitens ist Kevin
nicht zu Haus, sondern im Wald. Kevin allein
zu Haus kann zur Gefahr werden, aber hier in
der Kita ist er ein lieber, netter Junge.” Frau
Lehmkuhl erhob sich, blickte einmal in die
Runde und sagte dann beruhigend: „Da vorne
kommt Kevin.” Plötzlich war aber Frau
Lehmkuhl gar nicht mehr so ruhig, denn
Kevin trug etwas in den Händen, was
überhaupt nicht kitatauglich war: einen
Totenschädel.
„Guck mal, Frau Lehmkuhl, was ich gefunden
habe.”
Und Frau Lehmkuhl guckte mit weit
geöffneten Augen.
„Wo hast du das gefunden?” Sie wagte nicht,
das Wort „Totenschädel” auszusprechen. Das
tat dann Lisa, fünf Jahre alt, an ihrer Stelle:
„Kommt mal alle her, der Kevin hat einen
Totenschädel gefunden!”
Blitzschnell waren alle 26 Gruppenkinder um
den Totenschädel versammelt.
„Wem der wohl gehört?” Ein nachdenkliches
Schweigen. Dann mutmaßte Paul: „Vielleicht
unserem Nachbarn. Der ist nämlich tot. Und
mein Papa hat gesagt, der Heinz, also unser
Nachbar, hätte eins über die Rübe
bekommen. Mit ‚Rübe‘ meint Papa den Kopf.”
„Also Paul, jetzt reicht es aber”, griff Frau
Lehmkuhl ein. Sie hatte sich wieder
gefangen. „Kevin, zeig uns doch bitte einmal,
wo du dieses Ding gefunden hast.”
Zielsicher führte Kevin Frau Lehmkuhl, ihre
Stellvertreterin und 25 weitere Kinder sowie
zwei Praktikantinnen, die den Schluss
bildeten, zu einem kleinen Hügel.
„Da ist ein Loch und ich konnte in den Hügel
gucken”, erklärte er.
Frau Lehmkuhl machte wieder große Augen.
Aber Kevin hatte alles richtig erzählt. Am
Fuße des Hügels hatten Tiere oder das
Regenwasser ein Loch entstehen lassen,
durch das man in den Hügel sehen konnte.
„Ich bin reingekrochen”, erklärte Kevin, „da
sind noch viele Knochen drin.”
„Oh ja, lass uns alle mal reinkriechen, Frau
Lehmkuhl, dann können wir uns auch die
Knochen ansehen”, schlug Lisa vor.
„Soweit kommt es noch”, antwortete Frau
Lehmkuhl, jetzt wieder ganz ruhig und
gefasst. „Es handelt sich hier um eine uralte
Grabanlage. Es ist sozusagen ein Friedhof.
Und da kann man nicht einfach rumspielen
und hineinkriechen. Wir informieren jetzt
Leute, die sich mit solchen Funden
auskennen, damit sie sich das hier ansehen.”
„Archologen”, meinte Kevin.
„Archäologen verbesserte Frau Lehmkuhl.
„Was ist das, ein Archäologe?”, fragte Emma.
„Die buddeln in der Erde und kriegen dafür
Geld”, erklärte Kevin.
„Können Mädchen auch Archäologe werden?”,
fragte Emma zurück.
„Natürlich”, erklärte Frau Lehmkuhl, „du
wärest dann eine Archäologin.”
„Ich werde Archäologin”, versicherte Emma.
„Ich buddele nämlich auch gerne.”
„Ich auch!”
„Ich auch!”
Damit hatte die deutsche Altertumsforschung
eine ganze Reihe von Nachwuchsarchäologen
und Nachwuchsarchäologinnen gewonnen.
„Aber zunächst gehen wir zurück zu unserem
Platz. Ich muss einmal mit der Stadt
telefonieren, um zu erfahren, wo im
Augenblick in Greven gebuddelt wird.”
Gebuddelt wurde in nur einem Kilometer
Entfernung, nämlich in Pentrup. Dort hatte
man schon massenhaft Scherben aus dem
Boden geholt. Nach einer kurzen Beratung
nahm eine der Praktikantinnen ihr Fahrrad
und radelte los. Nach einer guten halben
Stunde kam sie in Begleitung zurück, sie auf
ihrem Fahrrad, zwei Archäologen in einem
uralten Geländewagen. Vielleicht ist das ein
Standeszeichen für Archäologen, siehe
Indiana Jones.
Die Praktikantin stellte die beiden vor: „Herr
Prof. Dr. Habe- nicht-Breitscheid und Frau Dr.
Kampmann. Frau Lehmkuhl, die Leiterin der
Kita und der kleine Junge dort, das ist Kevin,
ein Junge mit Forscherdrang.”
Frau Dr. Kampmann, ziemlich jung und sehr
hübsch, ging auf Kevin zu. „Dann zeig uns
einmal, was du gefunden hast.”
Kevin nahm die Frau Doktor an die Hand und
führte sie zur besagten Stelle. Der Herr
Professor folgte mit der gesamten Kita-Schar.
„Sehen Sie dort, da habe ich den Schädel
wieder hingelegt, damit er nicht verloren
geht.”
Die Frau Doktor nahm den Schädel auf,
begutachtete ihn und gab ihn mit einem
Lächeln an ihren Chef weiter. Dann nahm sie
eine große Taschenlampe, die sie mitgebracht
hatte, und zwängte sich in die Öffnung. Es
dauerte etwa zwei Minuten, dann erschien sie
wieder – mit einem weiteren Schädel. Sie
hielt ihn hoch und zeigte ihn Frau Lehmkuhl.
„Sehen Sie den Unterschied?”
„Nun ja, die Farbe. Kevins Schädel ist fast
weiß, der, den Sie gefunden haben, ist
dunkler, bräunlich.”
„Genau darum geht es. Dieser Schädel hier
ist 4 - 5 Tausend Jahre alt. Kevins keine 100
Jahre. Grob geschätzt 60 - 70 Jahre. Mein
Schädel ist ein Fall für uns, ein wirklich gut
erhaltenes Grab mit sechs oder sieben
Skeletten. Kevins Schädel ist ein Fall für die
Polizei.”
Der Herr Professor strahlte. „Diese Dame ist
exzellent. Habe ich allerdings auch
ausgebildet. Kevin, was willst du einmal
werden?”
„Archäologe, das ist doch klar.”
„Bravo! Frau Lehmkuhl, wir benachrichtigen
sofort die Polizei. Uns glaubt man. Bei Ihnen
würden die vermuten, dass Sie einen
menschlichen Schädel nicht von einem
Tierschädel unterscheiden können. Kevin, du
hast alles richtig gemacht.”
Kevin strahlte mit der Sonne um die Wette.